Horrortrip - ausformuliert
Ich bin ja eigentlich recht zäh in Sachen Fortbewegung: lange Auto-, Zug-, und Flugreisen stecke ich recht gut weg.
Aber das gestern war anders.
Wir (das waren ein Japaner, der Fahrer und ich) starteten um 5 Uhr an den Guesthouses und fuhren erst mal eine Stunde in die Stadt, um zwei indische Kollegen aufzugabeln.
Da man in Indien ab einem gewissen Stand keine 100 Meter zu Fuß gehen kann, mussten wir große Umwege fahren, bis mein indischer Lieblingskollege vor der Haustüre abgeholt werden konnte.
Gleich die erste Stunde Fahrt ging durch enge Dorfstraßen und Überlandwege, deren Schlaglöcher groß und zahlreich genug waren und häufig Schritttempo forderten, Wirbelsäulen-Locker-Rütteln inklusive.
Nach besagter Stunde zweigten wir jedoch auf eine offizielle Fernstraße ab und legten an Tempo zu. Über den Shortcut spare man ein paar Kilometer duch die Stadt, erklärte man mir (mein Interpretationsansatz hat eher was mit den paar Cent Autobahngebühr zu tun, die auf der offiziellen Route fällig wären).
Nun gut, nach 8,5h Fahrt erreichten wir unser Ziel im 350km entfernten Bangalore.
Nach dem lächerlichen, rund zweistündigen Kundentermin, stärkten wir uns im nahegelegenen McDonalds mit Chickenburger.
Zum ersten Mal an diesem Tag durfte der Fahrer (ein wirklich netter Kerl) am selben Tisch wie wir sitzen. Aber nur weil er sonst einen weiteren Achter-Tisch blockert hätte. Persönlich finde ich solche Gepflogenheiten zutiefst abstoßend, werde da aber vermutlich nichts dran ändern.
Gegen 17:00 Uhr starteten wir unsere Heimreise mit mehreren Staus in Bangalore, standen so durch die Dämmerung bis in die Dunkelheit, die das Land spätestens um 18:00 verschluckt hat.
Das Erreichen der Schnellstraße wurde von heftigen Regengüssen begleitet, die die Sicht auf Verkehr und Straße zeitweise komplett verhinderten.
Während meine Kollegen auf den hinteren Plätzen ihre Äuglein schlossen und die Atemfrequenz verlangsamten, saß ich wie gebannt auf dem Beifahrersitz und nahm den Blick keine Sekunde von dem, was ich für die Fahrbahn hielt, allzeit bereit Alarm zu schlagen.
Das Fahren bei Nacht auf indischen Straßen ist ein Graus.
Es fängt damit an, dass die Straßenqualität sehr wechselhaft ist und Schlaglöcher von 30cm Tiefe und 1m Durchmesser keine Seltenheit sind. Ich wollte nicht herausfinden, ob es in indien gelbe Engel gibt.
Ferner findet auf indischen Autobahnen ein reger Wildwechsel statt. Bei Nacht sind es weniger die Kühe, sondern vor allem die Menschenmassen, die die Landschaft zerteilende Fahrbahn zu überqueren suchen. Bei jener schlechten Sicht, geschah es nur zu leicht, dass man jemanden übersah. Normales Prozedere ist, dass der Fahrer mit Akustik und Optik hupt und seine Fahrt unbeirrt fortsetzt, während auch der Fußgänger seinen Gang ebenso unbeirrt fortsetzt. Im letzten Augenblick bewegt sich dann doch meist jemand aus dem Kollisionskurs, wobei ich noch keine Regelmäßigkeit erkennen konnte, wer gerade dran ist.
Eine absolute Unart ist das permanente Fahren mit Aufblendlicht: ist der Bewuchs zwischen den unterschiedlichen Fahrtrichtungen recht spärlich, fährt man ständig gegen eine Wand aus Licht an.
Ich bin mir nicht sicher, ob Inder einen Zusammenhang zwischen Aufblendlicht und Blendung herstellen können.
Man kann sich lediglich mit dem Gedanken trösten, dass keiner was sieht.
LKWs sind angehalten, sich auf die linke, also die langsame Spur zu beschränken, ziehen es jedoch vor sich gemäß der Gauß'schen Normalverteilung auf allen vorhandenen Spuren zu bewegen. Das hat zur Folge, dass man sich mit entsprechender Geschwindigkeit im Slalom um die Lastwagen und Transporter schlängelt. Damit die Lastwagen Platz für einen machen (und die Lücke auch nicht wieder gleich schließen), wird jeder Überholvorgang mit intensivem Lichthupen und Hupenhupen begleitet. Der Abstand zwischen Lastwagen und eigenem Fahrzeug verhält sich indirekt proportional zur Länge der einzelnen Hupintervalle.
Aufpassen muss man auch auf den Gegenverkehr auf der eigenen Spur. Viele Schilder mahnen zu Lane Discipline und versprechen "Lane Discipline is a guarantee for long life".
Langes Leben gehört jedoch leider nicht zu den primären Zielen eines Inders: vom unbeleuchteten Motorrad, bis zum Reisebus muss man mit allem Rechnen.
Leider kamen wir dann auch an einer Unglücksstelle vorbei, an der wenige Augenblicke zuvor ein Kleinwagen in einen rangierenden Bus fuhr. Die beiden Insassen auf den vorderen Sitzen hatten die Köpfe regungslos nach vorne geklappt und ihre Oberkörper endeten in dem Zusammengeschobenen Blech, wo vorher eine Fahrgastzelle war.
Um die Stelle sammelte sich bereits eine ziemlich große Menschenmenge, wir konnten jedoch relativ schnell passieren.
Weiterhin war ich noch motivierter meine Augen keine Sekunde von der Straße zu lassen.
Gegen 0:30 Uhr morgens erreichten wir glücklicherweise wieder das Stadtgebiet von Chennai, wo wir erst die indischen Kollegen nach Hause brachten und kurz vor 2 Uhr dann am Guesthouse ankamen. Ob er jetzt noch nach Hause radeln müsse, fragte ich den Fahrrer. Nein, er schlafe im Auto, er muss uns um 7:45 Uhr ja wieder in die Firma fahren. Ich schob ihm noch ein ordentliches Trinkgeld zu (und das, obwohl mein ungeliebter, indischer Manager-Kollege am Anfang meiner Reise meine Frage nach einem Trinkgeld für die Fahrer damit abtat, dass sie doch zur Firma gehören und nichts bekommen sollen), dafür dass er tapfer 19 Stunden unter widrigsten Bedingungen Auto gefahren ist und ich mich in einem Stück in mein Bett legen konnte.
Wenn das Trinkgeld unangemessen hoch gewesen sein sollte (für deutsche Verhältnisse immer noch ein Klacks), dann darf das als mein Protest gegen die indische Gesellschaftsordnung ausgelegt werden.
Als ich ihn heute früh fragte, ob er gut geschlafen hätte meinte er, dass schlafen nur bedingt möglich war, da der starke Regen auf dem Autodach recht laut war. Aber wenn er uns in die Firma gefahren hat, fährt er kurz Heim und macht sich frisch.
Im Büro hatte sich heute Morgen eben jener (ich mag ihn wirklich!) sehr geschätzte, indische Kollege überraschend einen Tag Urlaub genommen.
Mir blieb als Alternative nur eine Paracetamol.




hr.gross am Mi, 17.11.2010, 08:52  |  Permalink
Ist bisschen lang geworden. Tschuldigung. Ich muss das ja auch irgendwie verarbeiten. Außerdem wirkt die Paracetamol noch nicht und es fällt mir schwer produktiv zu sein.

ranke am Mi, 17.11.2010, 10:24  |  Permalink
sie haben mein vollstes verständnis.
ich mag nachtfahrten bei regen schon hier nicht und bei den beschriebenen verhältnissen kann ich mir das grauen gut vorstellen.

hr.gross am Mi, 17.11.2010, 10:35  |  Permalink
Und wenn man dann den Tod so bildlich vor Augen geführt bekommt. Für die Inder mag das no issue sein, aber für mich ist das durchaus big issue.

grossmutter am Mi, 17.11.2010, 22:09  |  Permalink
Dienstreise
Du könntest Deinen ausformulierten Text ja mal an den freundlichen Herrn aus der Abt. P in AB senden, der Dich so glühend um die Dienstreise auf Firmenkosten beneidete.
uuund wenn ich diese Zeilen schreibe, sind es nur noch 29 Tage.
Glück auf!

hr.gross am Do, 18.11.2010, 03:05  |  Permalink
Oh, ich glaube aktuell beneidet mich keiner dort.
Und ich versorge ja die halbe Firma per Mail mit meinem "Indien-Newsletter". Die freuen sich alle immer.

hr.gross am Mi, 17.11.2010, 16:02  |  Permalink
Gegenverkehr auf der eigenen Spur?
No issue.



Ladungssicherung?

No issue.


nixloshier am Mi, 17.11.2010, 19:14  |  Permalink
du stellst dich aber auch immer an, mensch!